Mevlanas Ansichten über das Ungenügend-Sein des Verstandes
(von Şefik Can Efendi)
Der ungenügende Verstand
Den Menschenverstand, welcher fähig ist zu denken, wahrzunehmen und zu verstehen, untersucht Mevlana von zwei Seiten:
Gemäss Mevlana ist der Verstand für den Menschen ein Vermögen, welches sehr wertvoll, gleichzeitig aber auch unnütz ist. Diese Sicht untersucht er in zwei Stufen. In der ersten Stufe unterscheidet der Verstand den Menschen von den Tieren; er erlaubt dem Menschen, Mensch zu sein, er ist sehr wertvoll und ein göttliches Geschenk. Der Mensch kann sein niederes Selbst mit dem Verstand besiegen, sich von den niederen Wünschen reinigen und ein höheres Sein erreichen. Der Verstand ist ein Gotteslicht im Herzen, durch ihn können wir die Wahrheit und die Falschheit erkennen.
Unser Prophet sagte: „Der Unwissende ist unser Feind, er ist ein Bandit, der unseren Weg abschneidet. Doch der Gescheite ist unser teuer Freund wie die Seele. Der kühle Wind, der von ihm kommt, bringt uns wohlriechenden Duft. Auch wenn der Verstand verrückt auf mich ist und zu fluchen anfängt, bin ich trotzdem zufrieden und lehne mich nicht gegen ihn auf, weil er mir Segen gibt – er besitzt den Segen von dem, der mich erschaffen hat. Sein Fluchen und mich Beschimpfen kann nicht umsonst sein. Er kommt nie mit leeren Händen zu Besuch. Doch wenn der Dummkopf mir Helva (Süssigkeit) in den Mund gibt, bekomme ich davon Fieber und werde krank.“
(Mesnevi, B lV, Nr. 1947).
„Wenn der Verstand sein Angesicht in sichtbarer Form zeigte, wäre sogar der Tag im Vergleich zu seinem Licht dunkel. Und wenn die Dummheit sichtbar wäre, wäre die Dunkelheit der Nacht im Vergleich dazu strahlend hell.“
(Mesnevi, B lV, Nr. 2181)
Je höher der Rang ist, den Mevlana dem Verstand einräumt, um so niedriger ist die Stellung, die er der Dummheit beimisst: „Die Risse der Dummheit und des Unwissens können nicht gestopft werden. Oh Ratgeber, bemühe dich nicht umsonst und streue die Saat der Weisheit nicht nutzlos.“
Die Flucht vor den Dummen
Mevlana erzählt im Mesnevi, Band III, Nr. 2570, wie Jesus (Friede sei mit ihm) vor den Dummen floh:
„Jesus, Marias Sohn, lief auf die Berge zu, wie wenn er von einem Löwen, der sein Blut vergiessen wollte, verfolgt würde. Jemand rannte hinter ihm her und sagte: „Niemand ist hinter dir her, warum fliehst du wie ein Vogel?“ Jesus lief so eilig weiter, dass er nicht antworten konnte. Der Mann lief eine Weile hinter Jesus her und rief ihm wieder zu: „Um Gottes Wohlgefallen willen, halte doch einen Augenblick an. Ich wundere mich, weshalb und vor wem du fliehst.“ Jesus sagte: „Ich fliehe vor dem Dummen. Halte mich nicht auf, so dass ich mich retten kann.“ Der Mann sagte: „Bist du nicht der Messias, der die Blinden und die Tauben heilt?“ Jesus antwortete: „Ja, der bin ich.“ Der Mann fragte wieder: „Du bist doch der, der wenn er einen toten Mann anspricht, derjenige aufspringt wie ein Löwe, der Beute gefangen hat?“ Jesus sagte: „Ja, der bin ich.“ Darauf sagte der Mann: „Oh, reine Seele, die so viele Wunder vollbringen kann. Vor wem hast du Angst?“ Jesus sagte: „Ich sprach den Höchsten Namen über den Blinden, seine Augen öffneten sich. Ich sprach es zum Tauben, seine Ohren hörten wieder. Ich sprach es zum Berg, der wie ein Felsen war, er wurde gespalten. Ich habe es dem Toten gelesen, er wurde lebendig. Doch ich habe es hunderttausend Mal dem dummen Mann vorgelesen, es hat nichts genützt.“
Nachdem Mevlana die Vernunft in verschiedenen Beispielen als ein grosses Gottesgeschenk erläutert hatte, machte er auch Vergleiche, um uns zu zeigen, dass die Vernunft uns auf dem Weg Gottes, auf dem Weg der Liebe nicht weiterbringt. Er verglich die Vernunft mit Gabriel (Friede sei mit ihm) und sagte:
„Als unser Prophet in Begleitung von Gabriel zum Gott aufstieg, erreichten sie während der Himmelfahrt einen Ort, da stand die Vernunft und sagte: „Oh Ahmed, wenn ich noch einen Schritt mehr mache, werde ich verbrennen. Lass mich hier zurück; von diesem Punkt aus, schreite du allein weiter. Oh Sultan der Seelen, meine Grenze erlaubt mir nur bis hierhin.“
Gemäss Mevlana gibt es aber auch eine Zeit, wo die Vernunft nichts mehr nützt. Die Vernunft, die unser niederes Selbst besiegt hat, die uns viel Gutes beschert hat, die uns zu einem Menschen erhoben hat, die uns zum Glauben geführt hat – wie kommt es, dass wir sie wie eine altmodische Lampe wegwerfen müssen?
Das Wort Vernunft kommt ursprünglich aus dem arabischen Wort „ikâl“, welches Fessel bedeutet. Eine Fessel ist auch die Kette, die die Taschenuhr an das Kleid bindet. Somit kann man diese nur bis zu einem bestimmten Punkt ziehen; wenn man weiter zieht, reisst sie ab.